Faschismus, Teil 1

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Der Artikel behandelt einen neuen Ansatz zur Faschismusdefinition, der auf den Vorträgen von Theodor. W. Adorno, Umberto Eco und dem Buch „Abschied vom Proletariat“ von André Gorz basieren.

Die Faschismustheorie muss neu gedacht werden

Die von linken Soziologen und Historikern vertretene These, der Faschismus sei ein Produkt des herrschenden militärisch-industriellen Komplexes, hat lange Zeit dominiert. Schließlich waren die Nationalsozialisten mit massiver Unterstützung der deutschen Industriellen an die Macht gekommen. Hitler hatte diesen Herren erklärt, dass die Begriffe sozialistisch und Arbeiterpartei nur propagandistischen Zwecken dienten. Nach dem Zusammenbruch waren es vor allem linke Intellektuelle, die Analysen vornehmen konnten. Doch sie machten einen verhängnisvollen Fehler.

Sie definierten den Faschismus lediglich als Verbindung von wirtschaftlicher Macht und politischer Perversion. Aber was war eigentlich Stalinismus, Maoismus oder die Schreckensherrschaft der Roten Khmer? Dort gab es keine Kapitalisten, also waren es linke Terrorregime, fehlgeleitete und fehlinterpretierte Formen des Sozialismus, die Diktatur des Proletariats einfach falsch verstanden. Sozialistische Diktaturen sind eben Irrtümer der Geschichte.

Wirklich?

Die sogenannte Hufeisentheorie besagt, dass sich rechte und linke Seiten eines politischen Spektrums im Laufe der Zeit angleichen und zu einem Ergebnis von Unfreiheit, Unterdrückung und Terror führen. Das KZ und der Gulag sind Ergebnisse zweier Systeme, die sich letztlich nicht unterscheiden.

Heute, im 21. Jahrhundert, ist klar, dass dies eine fatale Fehleinschätzung und Analyse war. Sie hat die Idee des Sozialismus bzw. aller politischen Schulen diskreditiert, die in der Abschaffung des Kapitalismus die Grundlage für eine bessere, gerechtere Gesellschaft sehen.

Adorno erklärt dazu in seinem Vortrag von 1967:

„Soweit es sich um die Frage nach dem industriellen backing dieser Bewegungen handelt, liegen bei uns bis jetzt wirklich konkrete Belege dafür nicht vor. Man muß in all diesen Dingen sehr vorsichtig sein, daß man nicht zu schematisch denkt und etwa also mit dem Schema von der Industrie, die den Faschismus forciert – man darf damit nicht so leichtfertig operieren. Man muß sich dabei auch vergegenwärtigen, daß ja der Faschismus, dessen Apparatur stets eine Tendenz hat, sich auch den tragenden ökonomischen Interessen gegenüber zu verselbständigen, auch für die große Industrie ja keine Annehmlichkeit ist und daß man in Deutschland zum Faschismus als einer Ultima ratio geschritten ist, nämlich im Augenblick der nun wirklich ganz großen Wirtschaftskrise, die also für die damals bilanzmäßig bankrotte Ruhr-Industrie eine andere Möglichkeit offenbar nicht gelassen hat.“1

Im Frühjahr 2025 hat sich die amerikanische Politik in ein faschistisches System verwandelt. Aber profitiert die amerikanische Wirtschaft davon? Schauen wir uns Trump an, dann ist die Antwort klar: Seine Zollpolitik schadet der amerikanischen Wirtschaft.

Umberto Eco, italienischer Schriftsteller, Kolumnist, Philosoph, Medienwissenschaftler und einer der bekanntesten Semiotiker sowie Philologe, erklärt in seinem Vortrag:

„Der Begriff Faschismus konnte deshalb zu einer Sammelbezeichnung werden, weil ein faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch erkennbar bleibt, wenn man ein oder mehrere Merkmale abzieht. Ziehen wir den Imperialismus vom Faschismus ab, so haben wir immer noch Franco und Salazar, Ziehen wir den Kolonialismus ab, so haben wir noch den Balkanfaschismusder Ustascha. Fügen wir dem italienischen Faschismus einen radikalen Antikapitalismus hinzu (der Mussolini nie sehr interessiert hat), so haben wir Ezra Pound. Fügen wir einen Kult der keltischen Mythologie und die Gralsmystik hinzu (die dem offiziellen italienischen Faschismus völlig fremd waren), so haben wir einen der höchst geachteten faschistischen Gurus: Julius Evola.“1

Eco entwickelt dann die Theorie des Urfaschismus und stellt 14 Merkmale auf. Ein Bekannter von mir hat diese Thesen zusammengefasst:

  1. Traditionenkult. Der Traditionalismus als Gegenbewegung zum Synkretismus (Vermischung verschiedener Religionen, Konfessionen, philosophischer Lehren) → „Es kann keinen Fortschritt der Erkenntnis geben, die Wahrheit ist ein für allemal verlautbart“
  2. Ablehnung der Moderne: Trotz Technikverehrung fußt die Ideologie auf Blut und Boden. Im Grunde werden die Aufklärung und die Werte von 1789 abgelehnt.
  3. Irrationalismus: „Denken als Form der Kastration“. Kultur wird verdächtigt, sobald sie kritisch wird. Misstrauen gegenüber dem Intellekt.
  4. 4. Ablehnung der analytischen Kritik: Wenn die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich ansieht, ist es für den Ur-Faschismus Verrat.
  5. Ablehnung von Meinungsvielfalt und Pluralismus: Die natürliche Angst vor Unterschieden wird ausgebeutet und verschärft. Der erste Appell des Faschismus oder Vorfaschismus richtet sich gegen Eindringlinge.
  6. Entstehen durch individuelle oder soziale Frustration: Der Appell an die frustrierte Mittelklasse in einer ökonomischen Krise oder bei politischer Demütigung.
  7. Nationalismus: Menschen, die sich der sozialen Identität beraubt fühlen, wird ein einziges Privileg zugesprochen: In demselben Land geboren zu sein. Die Wurzel der urfaschistischen Psychologie ist Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen, am besten durch Fremde.
  8. Demütigung vom Reichtum und der Macht der Fremden: Damals: „Juden sind reich und haben ein geheimes Netz gegenseitiger Unterstützung“. Heute „Flüchtlinge kriegen alles, haben iPhones und haben sich zur „Invasion“ verschworen“.
  9. „Das Leben ist nur um des Kampfes Willen da.“ „Pazifismus ist die Kollaboration mit dem Feind.“
  10. „Elitedenken“: Man gehört dem besten Volk, der besten Rasse an. Der Führer weiß, dass ihm die Macht nicht demokratisch übertragen werden kann, dass seine Kraft in der Schwäche der Masse wurzelt. Jeder Unterführer verachtet seine Untergebenen. Die Folge ist ein massenhaftes Elitebewusstsein.
  11. Erziehung zum Heldentum: Ein Held ist in der Mythologie ein außergewöhnliches Wesen. Im Faschismus ist der Held die Norm. Das Heldentum hängt eng mit einem Todeskult zusammen. Der Held im Faschismus sucht ungeduldig den heroischen Tod als beste Belohnung und schickt in dieser Ungeduld gerne andere in diesen Tod.
  12. Übertragung des Willens zur Macht und des Heldentum auf die Sexualität: Das ist der Ursprung der Frauenverachtung und der Intoleranz gegenüber ungewöhnlichen Sexualpraktiken (von Keuschheit bis Homosexualität) und die Neigung zur „phallischen Ersatzübung“, dem Spiel mit der Waffe.
  13. Selektiver Populismus: Der individuelle Bürger wird durch den Volkskörper ersetzt. Das Nürnberger Reichstagsgelände wird zum Internetpopulismus.
  14. Urfaschismus spricht „Neusprache“: Ein verarmtes Vokabular mit Framing und Deutungshoheit. Von „Lügenpresse“ bis „Umvolkung“ werden Begriffe neu etabliert.

Der französische Sozialphilosoph André Gorz hat einen anderen Ansatz, wie der Faschismus an die Macht kommen kann und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Seine Ausführungen stimmen mit denen von Adorno und Eco überein. Ich habe hier eine relativ lange Passage von Gorz eingefügt. Gorz hat es einfach genial formuliert, da kann ich nicht mithalten.

Die Ersetzung der personalen Macht durch die funktionale, mit einem anonymen Organisationsplan verknüpfte Macht hat die Klassenkampfziele gründlich verändert. Nunmehr wird die Macht in der Gesellschaft und im Unternehmen von Leuten ausgeübt, die sie nicht besitzen, die für ihre Handlungen nicht verantwortlich sind und die es eher der ihnen übertragenen Funktion überlassen, sie zu verantworten. Gerade weil der Bürokrat Ausführender und Diener ist, ist er nicht verantwortlich. Kühl angesichts jeder denkbaren Empörung, hinter den prädefinierten Verpflichtungen seiner Funktion verschanzt, entwaffnet er jeden Protest: »Wir tun nicht, was wir wollen. Wir wenden Vorschriften an, führen Befehle aus.« Wessen Befehle? Wer hat die Vorschriften ausgeheckt? So gründlich man auch nachforscht, man wird am Ende niemals eine Person entdecken, die erklärt: »Ich bin es.« Obwohl das herrschende System ein Klassensystem ist, so folgt daraus keineswegs, daß die eine Klasse bildenden Individuen herrschende seien. Sie sind vielmehr selbst, sogar in der von ihnen ausgeübten Macht beherrscht. Das Subjekt dieser Macht ist unauffindbar. Eben deshalb verlangen die subalternen Massen insgeheim nach einem Souverän, den sie zur Verantwortung ziehen, dem sie ihre Forderungen oder Bitten unterbreiten können: »De Gaulle, gib uns Moneten. Pompidou, gib uns Moneten. Die Unternehmer können blechen. Barre, wir haben die Nase voll.«

Man sieht die Falle. Mit den Wirkungen des Systems einen imaginären selbstverantwortlichen Souverän belasten, bedeutet, die Errettung von einem realen Souverän erwarten, der persönlich andere Wirkungen arantieren soll. Nach einem großen Führer, einem »höchsten Retter« zu rufen, um aus dem Gatter eines bürokratischen Herrschaftssystems zu entkommen, ist kein dem Kleinbürgertum spezifisches Verhalten. Wenn die beherrschten Massen weder über praktische noch über theoretische Mittel verfügen, das Herrschaftssystem als unrechtmäßig und unerträglich anzugreifen, kann die Zuflucht zur persönlichen Macht als wünschenswerter Ausweg erscheinen. Allein dadurch, daß der Führer erklärt: »Ich will, ich beschließe, ich verkünde«, befreit er das Volk aus serieller Ohnmacht. Gegenüber einem System der Verantwortungsverweigerung, anonymer Bürokratien, beherrschter Herrschender, die Macht ausüben, ohne sie zu verantworten, und unter ständigem Wehklagen, daß sie nicht tun, was sie wollen, und nicht wollen, was sie tun, erscheint der Führer zunächst als das »große Individuum« , das »Ich« . Zu sagen wagt. Die Macht ist er, die ganze Macht. Er verantwortet sie persönlich. Er verheißt Zuflucht, Heil all jenen, die vergeblich nach den Verantwortlichen ihrer Erniedrigung suchten.Er wird die Verantwortlichen benennen: ängstliche Kleinbürger, »Plutokraten« , »Kosmopoliten«, die hinter den Kulissen am Spinnennetz ihrer Intrigen, Spekulationen, geheimen internationalen Absprachen weben: korrumpierte und ohnmächtige Politiker, einer würdelosen herrschenden Klasse verkauft, die ihre schäbigen Ambitionen über das Wohl der Nation stellt.»Volk, erwache« – anstelle der elenden Ziele der Bourgeoisie verkündet der Führer seine eigenen grandiosen Absichten. Er erleichtert das Volk vonder Last jener Prozesse, die niemand gewollt hat, von dem Deformierungsdruck des Systems,für das niemand haftbar sein will. Er unterwirft die Geschichte seinem Willen, ersetzt die obskuren Gesetze der dinglichen Welt durch sein »fiat«:’Alles, was nunmehr geschieht, wird aus und nach seinem Willen geschehen: »Führer befiehl, wir folgen dir«, und im Gehorsam werden wir unsere Menschlichkeit und Größe wiederfinden. Das ist der Diskurs des Faschismus. Er transzendiert die Klassengrenzen und macht sich Bedürfnisse zunutze, die ein anonymes Herrschaftssystem, begründet auf der Ohnmacht jedes Einzelnen und aller zusammen, hervorgebracht hat, ohne sie befriedigen zu können. Die Entwicklung des Faschismus setzt notwendig einen mit den Massen verbundenen, zugleich »großartigen« und plebejischen Führer voraus, der sowohl die Würde des Staates wie die zur Allmacht erhobene Individualität des »einfachen Menschen« zu verkörpern sich anschickt. Fehlt ein solcher charismatischer Führer, dann kann es zwar eine Militärdiktatur, eine republikanische Monarchie oder einen Polizeistaat geben, aber keinen Faschismus.

Die Besonderheit des Faschismus besteht in der Identifikation des allmächtigen Führers mit dem Volk. Die Macht des Führers ist die auf der Bevollmächtigung durch alle beruhende Macht. Der Führer ist der Mann des Volkes, der Kraft und Mut besitzt, um alle Profiteure, Ausbeuter, Parasiten, Bürokraten und Politiker an verjagen, die das Volk an das System fesselten und seinen Willen lähmten. Der Faschismus beseitigt auf allen Ebenen die funktionale Macht, um sie durch die personale Macht der Stärksten und Fähigsten zu ersetzen. Er beseitigt das System.“3

Der Faschismus ist das Produkt radikaler Oligarchien. Diese werden durch Gier und Cäsarenwahn pathologisch soziopathisch entmenschlicht. In ihnen kristallisiert sich ein Führer heraus, der absolute Macht hat und dem alle folgen.

Wenn wir uns heute umschauen, sehen wir drei Hauptkategorien von faschistischen Regimen:

  • Bürgerlicher Faschismus (dazu gehören z. B. die AfD und Teile des BSW, die mit ihren Thesen eine Art nationalen Sozialismus propagieren)
  • Feudalfaschismus (hierzu gehört auch der Politbüro-Faschismus)
  • Klerikalfaschismus (dazu gehören der Iran, die Türkei, aber auch der Nationalhinduismus oder der Buddhismus in Myanmar und die evangelikale Bewegung in den USA).

Die Grundlage all dieser faschistischen Spielarten ist die Herausbildung einer Oligarchie. In linken Kreisen werden Oligarchien leider immer noch mit Kapitalismus in Verbindung gebracht. Die „Linke“ weigert sich, Putin und seine Kamarilla als imperialen Faschismus anzuerkennen.

Wir müssen uns endlich an die ursprüngliche Bedeutung von Oligarchie erinnern.

Oligarchie bedeutet Herrschaft der Wenigen. Sie ist in allen politischen Systemen zu finden. Ob es die Wenigen in den sogenannten sozialistischen Politbüros waren und sind, wie in China, die Tech-Oligarchie des Silicon Valley, die fossil-militärische Oligarchie in Russland oder die klerikal-militärische Oligarchie im Iran oder in der Türkei – sie alle sind Beispiele für die Herrschaft der Wenigen.

Nach dem Aufstieg eines Führers kommen überall faschistische Regime an die Macht. Faschismus ist also das Produkt radikaler, durch Gier, Korruption und einem Cäsarenwahn entmenschlichter Oligarchien, in denen sich ein Führer herauskristallisiert, dem dann alle folgen. Ohne Führer sind es nur Diktaturen oder Autokratien. Mit Trump, Putin und Xi haben wir genau diese Führer. Wir müssen akzeptieren, dass der antifaschistische Kampf nur erfolgreich sein kann, wenn wir uns bewusst machen, dass wir es mit einem globalen Faschismus zu tun haben, der von drei Supermächten angeführt wird.

Wer hätte gedacht, dass wir im 25ten Jahr des 21. Jahrhunderts wieder vor einem globalen Faschismus stehen, an der Spitze drei Supermächte als Achsenmächte?

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1Theodor W. Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Suhrkamp, 7. Auflage 2024, Seite 15f

2Umberto Eco, Der ewige Faschismus, 8.Auflage, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 2024

3André Gorz,Abschied vom Proletariat: Jenseits des Sozialismus,EVA-Frankfurth am Main, 1980